Galt der Frontlenker bisher nicht gerade als Lieblingskind der Daimler-Benz AG, so ändert sich dies 1963 grundlegend. Die Bezeichnung heißt weiterhin LP, doch was jetzt aus Gaggenau kommt, hat mit den bisherigen Frontlenkern rein gar nichts mehr zu tun. Das beginnt bereits mit dem Typenkürzel: Der LP 1620 ist zum Beispiel ein Lastwagen mit 16 Tonnen Gesamtgewicht und rund 200 PS Motorleistung; die Zeit der schwer verständlichen Konstruktionsnummern als Typenbezeichnungen, eingeführt 1955, ist passé.
Die neue Baureihe überzeugt mit einer klaren, kubischen Gestaltung der Fahrerhäuser. Sie weisen eine großzügige Verglasung auf und sind bald auch in einer verlängerten Variante mit Schlafkabine für den Fernverkehr zu haben. Unter dem markanten Fahrerhaus stecken die bekannten Reihensechszylinder, die zu Beginn des Jahres 1964 den Schritt von der Vorkammer- zur wirtschaftlicheren Direkteinspritzung mit Leistungen bis 210 PS vollzogen hatten. Leistung und Hubraum steigen mit den Jahren. Überdies führt Daimler-Benz Dreiachser und Ende 1969 auch ein kippbares Fahrerhaus ein, das den Zugang zu den Aggregaten deutlich erleichtert.
Motoren-Revolution mit den V-Triebwerken der Baureihe 400
Das Kippfahrerhaus ist nur das äußere Merkmal einer echten Revolution, die unter dem Blech stattfindet: Im gleichen Zug erhalten die schweren Frontlenker weiteren Rückenwind durch eine neue Motorisierung. Daimler-Benz stellt bei den großen Motoren von den bisher verwendeten Reihensechszylindern auf ein Baukastensystem aus besonders kompakten V8- und V10-Zylindern um, die Baureihe 400 startet. Sie wird sich in den kommenden zweieinhalb Jahrzehnten durch ständige Weiterentwicklung einen hervorragenden Ruf sichern. Zu V8 und V10 gesellen sich V6-Motoren sowie Sechszylinder-Reihentriebwerke für Haubenwagen und Linienbusse. Mit anfänglich bis zu 320 PS aus dem legendären V10 des Typs OM 403 mit 16 Liter Hubraum hat das Flaggschiff Mercedes-Benz LP 1632 beeindruckende Leistungswerte. Aber auch der Achtzylinder mit 256 PS überzeugt. Zunächst produziert das Unternehmen die neuen schweren LP-Lastwagen in Gaggenau, doch nur wenige Jahre später zieht die Fertigung ins neu erbaute Werk Wörth um.
Das neue Werk Wörth als zentrales Lastwagenwerk
In dem pfälzischen Städtchen Wörth bei Karlsruhe hat Daimler-Benz Anfang der sechziger Jahre vorausschauend ein großes Gelände erworben. Umstritten ist jedoch zunächst, was dort nun gefertigt werden soll. Zunächst hat das Unternehmen dort ein Motorenwerk geplant, dann aber nutzt der Konzern die Chance, seine Nutzfahrzeugfertigung neu zu gliedern und in Wörth sein zentrales Lkw-Werk im buchstäblichen Sinne neu auf die grüne Wiese zu stellen. In der ersten Stufe fertigt Wörth zunächst Fahrerhäuser, mit dem Beginn des Jahres 1965 komplette Lastwagen. Bald laufen hier sämtliche Lastwagen des Unternehmens vom Band, das Werk Wörth entwickelt sich zum größten Lastwagenwerk Europas. Für die anderen Werke bedeutet dies keinen Nachteil: Gaggenau setzt auf den Unimog sowie Achsen und Getriebe, Mannheim auf Motoren und die Omnibusse.
Mit den leichten LP-Frontlenkern gelingt ein Volltreffer
Die ersten kompletten Lastwagen aus Wörth tragen ebenfalls das Kürzel LP, jedoch handelt es sich nicht um die schweren Lastwagen, sondern eine neue leichte Baureihe, beginnend mit dem Sechstonner LP 608. Damit ist auch in der leichten Gewichtsklasse das Thema der runden Frontlenker erledigt, die leichten Haubenwagen erhalten eine attraktive Ergänzung und werden bald darauf verdrängt. Die Familienähnlichkeit der leichten Baureihe zu den großen LP ist unübersehbar: Die Neulinge zeichnen sich ebenfalls durch ein eckiges Fahrerhaus mit markantem rechteckigem Kühlergitter und die großzügige Verglasung aus. Auch das Fahrerhaus der leichten LP-Modelle ist fest montiert und nicht kippbar. Im Unterschied zu den großen Modellen und abweichend von anderen Frontlenkern steigt der Fahrer jedoch hinter der Vorderachse ein, die sehr weit nach vorne gerückt ist.
Kompakte Vier- und Sechszylinder-Reihenmotoren treiben die kleineren LP-Modelle an. Sie basieren unverändert auf dem OM 312 aus dem Jahre 1949, der sich damit als außerordentlich entwicklungsfähig zeigt. Die leichte LP-Baureihe beschränkt sich zeitlebens auf eine klar definierte Klasse zwischen sechs und elf Tonnen Gesamtgewicht. Und in Sachen Motorleistung ist bei maximal 130 PS Schluss.
Ein neuer Großtransporter aus Düsseldorf
Der große Innovationsschub der Lastwagen von Daimler-Benz setzt sich im zweijährigen Rhythmus 1967 fort. In diesem Jahr tritt der Nachfolger des L 319 auf den Plan, der sogenannte Düsseldorfer. Wie alle Nutzfahrzeuge der Marke Mercedes-Benz, so muss auch der Großtransporter in dieser Zeit noch ohne Namen auskommen, also wird er intern einfach nach seinem Herkunftsort benannt. Damit ist der „Düsseldorfer“ denn auch deutlich vom „Bremer“ zu unterscheiden, der zweiten Transporterreihe, die ab 1977 zunächst im Werk Bremen vom Band laufen wird.
Doch zurück zum Düsseldorfer. Er trägt selbstverständlich auch eine offizielle Typenbezeichnung und kommt zunächst als L 406 D zur Welt. Dies steht für zulässige Gesamtgewichte von 3,5 bis 4,6 Tonnen und eine Motorleistung von 55 PS aus zwei Liter Hubraum, der Motor stammt aus dem Pkw Mercedes-Benz 200 D. Dabei jedoch bleibt es nicht lange: Die Baureihe reicht ab 1977 bis hinauf zum L 613 D mit 6,5 Tonnen Gesamtgewicht und 130 PS aus dem Reihensechszylinder der LP-Baureihe. Die wahlweise lieferbaren Benziner spielen in Deutschland keine Rolle. Typisch für den Düsseldorfer ist die Optik mit einer nur angedeuteten Motorhaube, da die Maschine platzsparend ein ganzes Stück weit in die Kabine ragt. Auch gibt es im Stil des leichten LP eine weit vorne angesetzte Vorderachse mit einem Einstieg dahinter.
Der Unimog wächst zu einem Komplettprogramm heran
Nicht nur bei den Transportern baut Daimler-Benz in den sechziger Jahren das Angebot zügig aus, auch bei seinem renommierten Spezialfahrzeug, dem Unimog. Das kleine Vielzweckfahrzeug bekommt 1963 mit der Baureihe 406 (U 65 bis U 84, die Zahl entspricht der Motorleistung in PS) und zwei Jahre später mit dem 416 (U 80 bis U 110) größere Geschwister. Größere Radstände und größere Gesamtgewichte, dazu eine deutlich höhere Leistung, der Unimog legt deutlich zu. Neben den kleinen Baureihen U 401/411 hat Daimler-Benz bis dahin größere Unimog nur für das Militär gefertigt. Damit nicht genug: Ab 1966 folgen die Unimog-Baureihen 421 und 403 als Zwischengrößen. Sie verfügen erstmals über ein kippbares Fahrerhaus.
Zwei namhafte Traditionsmarken werden eingegliedert
Nachdem Daimler-Benz in Zwei-Jahres-Schritten Transporter und Frontlenker-Lastwagen komplett erneuert hat, wendet sich das Unternehmen anderen Zielen zu. Mit Hanomag-Henschel und Krupp landen Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre zwei bedeutende und namhafte Wettbewerber im Konzern, die unter dem konjunkturellen Rückschlag der Jahre 1966/67 gelitten haben. Krupp hat als Industriekonzern und Lastwagen-Hersteller einen herausragenden Namen, die Lastwagensparte jedoch ist chronisch defizitär und das Mutterunternehmen hat aktuelle Schwierigkeiten. Als Konsequenz stellt Krupp die Lastwagenfertigung ein. Daimler-Benz übernimmt zwar keine Fabrik, jedoch den Vertrieb mit den Niederlassungen der renommierten Marke.
Anders bei der zweiten Übernahme. Hanomag und seine Vorläufermarken sowie Henschel haben zwar bereits eine bewegte, jedoch nicht immer erfolgreiche Vergangenheit hinter sich, als der Rheinstahl-Konzern sie 1969 zu Hanomag-Henschel zusammenfasst. Daimler-Benz beteiligt sich zunächst mehrheitlich daran, um das Unternehmen schließlich zum Jahreswechsel 1970/71 vollends zu übernehmen. Damit gehört nun das ehemalige Borgward-Stammwerk in Bremen, das frühere Tempo-Werk in Hamburg und das Henschel-Werk in Kassel zu Daimler-Benz.
Programm-Erweiterung durch neue Baureihen
Überdies ergänzen neue Baureihen das Angebot: Leichte Transporter von Hanomag mit Frontantrieb von 2,4 bis 3,3 und später 3,5 Tonnen Gesamtgewicht starten leicht abgewandelt als Mercedes-Benz L 206 D und L 306 D. Henschel-Lastwagen, hier speziell attraktive Kippervarianten, verbreitern die Basis der Lastwagen. Transporter und Lastwagen erhalten Mercedes-Benz-Aggregate; die angestammten Markennamen verschwinden mit den Jahren. Speziell das Werk Kassel behält jedoch auf Dauer seine wesentliche Bedeutung für die Nutzfahrzeugfertigung: Nach Auslauf der Henschel-Produktion laufen hier für einige Jahre Haubenwagen mit dem Stern für den Export vom Band, danach entwickelt sich Kassel zum zentralen Achsenwerk für die Nutzfahrzeuge von Daimler-Benz.
Mit Hilfe des neuen Lastwagen-Werks in Wörth und der Übernahme der Lkw-Aktivitäten von Krupp und Hanomag-Henschel macht Daimler-Benz einen Satz nach vorn. Von 1965 bis 1973 verdreifacht sich der Umsatz des Konzern nahezu von 4,9 auf 13,8 Milliarden Mark. Die Nutzfahrzeugfertigung klettert gar auf mehr als das Dreifache von 73 000 auf 216 000 Fahrzeuge. Daimler-Benz ist zum größten Lastwagenhersteller der Welt aufgestiegen.
Quelle: www.mercedes-benz.de